#Interview zum Thema
Mag.a Anna Obernosterer, BA hat Pädagogik, Germanistik und Kunstgeschichte studiert. Sie hat mehr als 20 Jahre Führungserfahrung in der Sozialwirtschaft, aktuell in leitender Funktion im Gesundheitsbereich. Sie ist Mitdenkerin und Mitgestalterin sowie Trainerin bei EINS22.
EINS22: Anna, du sprichst von „Neuen Vorzeichen“ in der Arbeit und der Führung und der damit verbundenen Notwendigkeit Führung neu zu denken.
Neben der Künstlichen Intelligenz gibt es ja auch andere Faktoren, die zu Veränderungen führen. Welche sind das deiner Meinung nach?
Anna Obernosterer: Der Strukturwandel in der Arbeitswelt fordert uns momentan alle und die Digitalisierung treibt diesen Wandel rasch voran. In einem komplexen und unvorhersehbaren Umfeld muss man flexibler agieren und Entscheidungshierarchien überdenken. Führung ist daher häufiger auf viele Personen verteilt. Entscheidend für den Erfolg ist oft, ob das Zusammenspiel aller Beteiligten funktioniert und wie gut es in einem Unternehmen gelingt, Selbstorganisation zuzulassen und Mitarbeiter:innen zu fördern, damit sie ihre Potenziale entfalten können. Die Rolle der Führungskräfte verschiebt sich in diesem Verständnis in Richtung Moderation und Coaching der Mitarbeiter:innen.
EINS22: Sich selbst gut zu führen ist dafür eine bedeutende Grundlage. Wie kann das gelingen & Was ist dafür notwendig?
Anna Obernosterer: Zunächst ist ein ehrlicher, offener und kritischer Umgang mit sich selbst erforderlich. Selbstreflexion ist dann auch kein einmaliges Ereignis, sondern ein kontinuierlicher Prozess. Je nach persönlichen Vorlieben kann man sich allein oder mit Unterstützung von Professionist:innen auf den „Weg zu sich selbst“ machen. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Selbstfürsorge, der gute Umgang mit sich selbst, der uns hilft, in die eigene Kraft zu kommen und die persönlichen Grenzen im Auge zu behalten. Dafür gibt es viele Methoden, seien es z.B. Körpertraining, Achtsamkeitsübungen, Meditation oder das Aufschreiben von Erfahrungen. Es ist wichtig, sich Zeit zu nehmen, um herauszufinden, was zu einem passt.
EINS22: Die letzte Überschrift in deinem Artikel sagt: Zeit für menschliche Führung!
Behauptet nicht jede Führungskraft von sich, menschlich zu führen? Wie muss man denken und handeln, um diese „Selbstverständlichkeit“ Wirklichkeit werden zu lassen?
Anna Obernosterer: Ja, in gewisser Weise ist das eine paradoxe Aussage, denn ein Mensch kann nur menschlich führen. Gemeint ist damit aber, dass das Modell eines hierarchischen Führens von oben herab ausgedient hat. Nun sind ganz andere Führungsqualitäten gefragt: Menschen inspirieren, zuhören, fördern, ein vertrauensvolles Umfeld gestalten, Sinn und Perspektiven vermitteln. „Führen auf Augenhöhe“ ist in diesem Zusammenhang ein oft genannter Begriff, der in der Realität aber mit Leben erfüllt werden will. Die wichtigste Grundvoraussetzung dafür ist: man muss Menschen mögen, um sie führen zu können.
#Impuls zum Thema
Führung unter neuen Vorzeichen
„Digitalisierung nimmt momentan vor allem die Form von algorithmischem Management an,“ resümierte kürzlich der Soziologe Simon Schaupp in einem Gespräch über die Digitalisierung in der Arbeitswelt. Nach einem ersten Erstaunen klärte eine weitere Definition mich auf: „Algorithmisches Management bezeichnet den Einsatz intelligenter Algorithmen und digitaler Technologien zur Automatisierung klassischer Managementaufgaben. […] Auf diese Weise gelingt es Unternehmen, die zwischenmenschliche Interaktion auf ein Minimum zu reduzieren.“ (Wiener, 2021)
Der Gedanke eines mich überwachenden Algorithmus erschreckte mich und ich fand mich imaginär in Houellebecqs Endzeitroman Die Möglichkeit einer Insel wieder. Keine angenehme Vorstellung!
Was aber unterscheidet menschliche Führungskraft von einem Algorithmus?, fragte ich mich, und brauchen wir dann überhaupt noch Führungskräfte? Welche Kompetenzen benötigen Vorgesetzte von heute, damit sie für die Arbeitswelt von morgen gerüstet sind?
Sich selbst führen
Gerade in Zeiten digitaler Transformation ist für die Führung von Menschen eines mehr denn je gefragt: Selbstführung.
Je umfassender die Verantwortung einer Führungskraft, desto wichtiger ist nicht nur ihre fachliche Kompetenz, sondern auch ihre Persönlichkeit. Sich selbst führen zu lernen ist deshalb eine Voraussetzung und gleichzeitig oft eine der größten Herausforderungen. Schließlich beeinflussen eigene Grundmotive, biografische Prägungen und persönliche Entwicklungen die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit wesentlich. Als Führungskraft ist man - im Gegensatz zum Algorithmus - mit persönlich-existenziellen Fragen konfrontiert und oft herausgefordert, auch unter Druck souverän, selbstbestimmt und wirksam zu agieren.
Je umfassender die Verantwortung einer Führungskraft, desto wichtiger ist nicht nur ihre fachliche Kompetenz, sondern auch ihre Persönlichkeit.
Selbstführung setzt ungeschönte, ehrliche Introspektion voraus und diese eröffnet einen nicht abzuschließenden Prozess, ein work in progress. Dafür sollte der eigene moralische Kompass bekannt und kalibriert sein. Methoden wie Achtsamkeitstraining und Meditation, aber auch bewusstes Innehalten und regelmäßige Ruhepausen ermöglichen es, in einen Abstand zu Emotionen, inneren Spannungen und Handlungsimpulsen zu kommen. „Menschen, die sich mit sich selbst auskennen, begegnen sich anders als solche, die keine Übersicht über sich besitzen. Die Begegnungen sind wacher, sorgfältiger und interessanter. Auch deshalb ist Selbsterkenntnis ein hohes Gut.“ (Bieri, 2014).
Mitarbeiter:innen und Teams auf Augenhöhe führen
Führungsaufgaben zu übernehmen kann ganz unterschiedliche Dimensionen beinhalten – je nach Unternehmen sind sie verschieden gewichtet. Allen gemeinsam ist die Übernahme von Verantwortung: für sich, für andere, für das Unternehmen. Damit Menschen geführt werden können, bedarf es einer glaubwürdigen Führungs-persönlichkeit, der die Mitarbeiter:innen vertrauen. Idealerweise sollte die Führungskraft ein solides, humanistisches Wertegerüst haben, um situativ angemessen auf Menschen und Umstände reagieren zu können. Wenn aber der Mensch sich dem Algorithmus einer künstlichen Intelligenz überantwortet, worauf soll er sich dann beziehen? Der Philosoph Thomas Fuchs nennt Präsenz und Verbundenheit als zentrale Motive eines neuen Humanismus, der darin mündet, dass Menschen füreinander Verantwortung übernehmen. Er sieht diese als feste Koordinaten eines Miteinander, selbst wenn technische und gesellschaftliche Veränderungen neue Denkmuster und Verhaltensweisen verlangen (Fuchs, 2024). Personalführung passiert in einem neuen Verständnis nicht mehr einseitig hierarchisch: Führungskräfte moderieren zwischen Kolleg:innen, sie agieren als Mentor:innen und Coach. Sie begegnen Mitarbeiter:innen auf Augenhöhe und achten auf ein vertrauensvolles Miteinander, geben Rückmeldung und bringen Impulse ein. Sie begegnen einander „menschlich“, denn Anwesenheit und Kommunikation bestehen nicht nur im Austausch von Informationen, sondern ermöglichen das wache Zuhören „mit dem sichtbaren Ausdruck der Aufmerksamkeit, der Erwartung oder der Bestätigung.“ (Fuchs, 2024)
Freude, Empathie und Inspiration
Freude, Empathie und Inspiration, sind weitere Grundeinstellungen, die Führungskräften befähigen, ein vertrauensvolles Miteinander zu gestalten. Denn Mitarbeiter*innen ahmen „inspirierendes Verhalten nach. […] Intuitiv erspüren sie die authentische Grundeinstellung der Person und wissen das zu schätzen. Ein kreatives Beziehungsumfeld entsteht.“ (Henrichfreise, 2022).
Management unter neuen Vorzeichen
Um die Ziele des Unternehmens in einer zunehmend flexibilisierten und entgrenzten Gegenwart im Auge zu behalten, sind natürlich auch fundierte Managementkompetenzen gefragt. Durch neue Möglichkeiten digitaler Steuerung erweisen sich Prozesse und bekannte Abläufe als überholt und es scheint, als ob die Obsoleszenz der Dinge auch in die Strukturen der Arbeitswelt Einzug findet: was heute noch gute Praxis war, kann morgen schon überholt sein. Führungskräfte müssen daher selbst offen sein für digitale Prozesse, sich Wissen über Entwicklungen aneignen und eine reflektierte Haltung entwickeln, sie müssen den digitalen Wandel im Unternehmen aktiv gestalten. Im Alltag bedeutet das, Offenheit, Neugierde und eine ausgeprägte Fähigkeit zu vernetztem Denken und Kooperation an den Tag zu legen und zur Zielverfolgung die richtigen Fragen zu stellen. Führungskräfte müssen Entscheidungen unter Unsicherheit treffen und Anpassung und Resilienz entwickeln, um auch mehrdeutige Situationen gut auszuhalten. Kurz gesagt, sie müssen „das Richtige tun, statt die Dinge richtig tun“, wie es Peter Drucker bereits vor Jahrzehnten formulierte. Algorithmen sind darauf programmiert, das Richtige zu tun. Sie lösen Probleme nach vorher definierten Regeln, sie agieren „entseelt“ mit dem Ziel, intuitive und kognitiv verzerrte Entscheidungen zu verhindern. Die Funktionsweisen der Algorithmen sind jedoch meist intransparent und verunsichern Menschen: ethisch ist das fragwürdig. Gesunde Skepsis ist also angebracht.
Zeit für menschliche Führung
Diese Entwicklungen eröffnen aber auch die Chance, dass Systeme künstlicher Intelligenz Führungskräfte von Routinetätigkeiten entlasten und mehr Zeit für Personalführung bleibt (Stowasser et al., 2022): Zeit, um diesen fundamentalen Wandel partizipativ zu gestalten, Zeit für offene und wertschätzende Kommunikation, Zeit für „menschliche“ Personalführung in einem vertrauensvollen Umfeld. Zeit für aufmerksame Gegenwart und Resonanz.
Text: Anna Obernosterer, 2024
Literatur:
Bieri, Peter (2014): Wie wollen wir leben.
Fuchs, Thomas (2024): Verkörperung und Beziehung. Für einen zeitgemäßen Humanismus. In: Menschen (8ff).
Heinrichfreise Sabine (2022): Freude als Führungsqualität (Interview) https://www.hr-heute.com/magazin/freude-als-f%C3%BChrungsqualit%C3%A4t
Wiener, Martin (2021): Algorithmisches Management. Wenn Algorithmen zum Boss werden. https://vhbonline.org/ueber-uns/100-jahre-vhb/100-schlaglichter-der-bwl/algorithmisches-management
Bebié Gut, Remo (2021): Algorithmus oder Mensch – wer trifft die besseren Entscheidungen?
https://www.ergonomen.ch/de/blog/88/algorithmus-oder-mensch-wer-trifft-die-besseren-entscheidungen
Stowasser et. al. (2022) Führung im Wandel: Herausforderungen und Chancen durch KI. https://www.plattform-lernende-systeme.de/aktuelles-newsreader/kuenstliche-intelligenz-und-fuehrung-wie-der-einsatz-von-ki-systemen-gelingt.html
EINS22:Impulse zum Thema "Führung unter neuen Vorzeichen" zum Download.
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